Love & Whiskey von Fawn Weaver
Endlich eine Biographie zu Nearest Green? Eine Rezension
Die kleine Zeitenwende 2016
Clay Risen ist ein oft von amerikanischen Medienhäusern herangezogener Experte für Bourbon. Sein vielleicht einflussreichster Artikel erschien 2016 in der New York Times. Er berichtete, dass ein afroamerikanischer Sklave niemand anderem als Jack Daniel das Destillieren beibrachte. Angesichts des brisanten Themas und der Reichweite der Publikation dürfte Risen mit hoher Resonanz gerechnet haben. Die war in der Tat beachtlich. Der Artikel wurde rezipiert und diskutiert, als Startpunkt für weitere Artikel, YouTube-Videos, Pod Casts etc. verwendet, die den Einfluss von Afroamerikanern auf die Entwicklung des amerikanischen Whiskys thematisieren wollten.
Die Hauptstoßrichtung dieser Beiträge war die bislang zu wenig gewürdigten Leistungen dieser Menschen bekannter zu machen. Dies war nicht zuletzt deswegen lohnend, weil Nearest Green, jener Lehrmeister Jack Daniels, den meisten tatsächlich unbekannt war. Sogar Wissenschaftler machten sich daran, den Afroamerikanern in der Geschichte des Bourbons auf die Spur zu kommen. …jedenfalls wurde dies bisweilen lautstark verkündet.
Eine weitere gewichtige Folge des Artikels von Clay Risen war die Aufmerksamkeit von Fawn Weaver. Diese Geschäftsfrau und Bestseller-Autorin war von der Story des Nearest Green so begeistert, dass sie über ihn ein Buch schreiben wollte. Sie hatte „zehntausend“ Dokumente gesammelt, so hieß es bereits 2017. Das Buch ließ auf sich warten, viel früher brachte sie ihren eigenen Whisky auf den Markt: Uncle Nearest. Im Sommer dieses Jahres erschien dann endlich das Buch: Love & Whiskey. Mit Hilfe von nicht weniger als 30 Historikern, Archivaren und Genealogen, tausenden Dokumenten und hunderten Zeitzeugeninterviews soll, so der eigene Anspruch, die „wahre Geschichte“ des Nearest Green enthüllt werden.
Nearest Green. Was wir bisher wussten
Ein Buch, das sich nichts weniger auf die Fahnen geschrieben hat, die Person des Nearest Green näher zu beleuchten und neue Erkenntnisse zu gewinnen, muss sich an eben jenem Erkenntnisgewinn messen lassen. Dazu ist es sinnvoll, den bisherigen Wissensstand zu rekapitulieren.
Dass wir von Nearest Green überhaupt wissen, haben wir in erster Linie Jack Daniel zu verdanken. Weder er noch seine Nachfolger verheimlichten jemals die Rolle Greens. Als Ben Green (keine Verwandtschaft) im Jahre 1967 die Biographie Jack Daniel’s Legacy veröffentlichte, wurden darin auch Nearest Green und einer seiner Söhne, George Green, erwähnt. Diese Erwähnungen bildeten die Grundlage für Risens Artikel.
Einerseits ist fürwahr erstaunlich, wie prominent Nearest Green erscheint. Ben Greens Buch nämlich trieft vor Südstaatenfolklore, verherrlicht die konföderierten Streitkräfte und verharmlost die Sklaverei. Dies hat sicher damit zu tun, dass der Autor auf die mündlichen Überlieferungen der Familie des Lem Motlow (1869 – 1947) zurückgriff, Neffe Jacks. Damit bewegte er sich ein bis zwei Generation von Jack Daniel entfernt. Das Umfeld Jacks hatte sich für die Südstaaten erklärt und ihre Sicht färbte Ben Greens Darstellung, die keinerlei Bemühung um objektive Distanz zeigt. Er hätte Nearest Green ohne weiteres herausschreiben können, allzumal im gesellschaftlichen Klima der 60er. Andererseits gehört der glückliche Sklave auch zu den unappetitlichen Topoi der amerikanischen Sklavenhaltergesellschaft und es steht zu befürchten, dass genau dieser Topos hier reproduziert wurde. Dennoch, es bleibt der Fakt, dass auch die Nachfahren Jacks anerkannten und überlieferten, wie Nearest Green ihn bei seinen ersten Schritten begleitete.
Doch wo Risen dies in seinem NYT-Artikel noch sorgsam abwog, ging Folgepublikationen jene Sorgfalt ab. Und ein wichtiges Detail aus Ben Greens Erzählung ging verloren. Nahezu alle Publikationen erwähnen die ersten Worte des Brennereibesitzers Dan Call, als dieser Nearest Green dem jungen Jack Daniel vorstellte: „Uncle Nearest is best whiskey maker that I know of […] and he will show you exactly what he is doing“. Die direkt im Anschluss folgenden, an Jack gerichteten Sätze dagegen werden ausgesprochen selten wiedergegeben: „Uncle Nearest […], this young fellow saved our baby […] I want him to become the worlds best whiskey distiller – if he wants to be. You help me teach him.“ (28).
Mit anderen Worten, Green war nicht der Lehrmeister, sondern der Helfer des Lehrmeisters, jedenfalls in dieser Lesart Ben Greens. Der Lehrmeister war Dan Call. Dass seine Rolle heutzutage fast ganz vergessen ist – deutlich weniger sollten ihn kennen als Nearest Green, spätestens nach 2016 – überrascht wenig. Call nämlich war Greens Sklavenhalter und kämpfte freiwillig für die Südstaaten. Kein Vorbild im 21. Jahrhundert.
Greens genaue Funktion lässt sich mangels sauberer Dokumentation schwer abschätzen. Dies ist generell ein Problem in der Erforschung von Sklaven in amerikanischen Brennereien, dem sich bis heute kaum ein Historiker gestellt hat. Die Zahl der fachwissenschaftlichen Publikationen ist bestechend dünn. Die bisherigen Ergebnisse sind indes spannend genug. So ist deutlich, dass Sklaven in manchen, keineswegs in allen, Brennereien die eine oder andere Funktion ausübten. Manche Brenner waren Sklavenhalter, manche Abolitionisten – letzteres geht heutzutage viel zu oft unter. Wir haben uns diesem schwierigen Thema hier bereits vorsichtig annähern wollen.
Weaver als Autorin
Fawn Weaver schreibt laut eigener Aussage Bücher über Liebe. In Love & Whiskey soll es um zwei Männer gehen, die es im Leben nicht immer leicht hatten: Nearest Green und Jack Daniel. Allerdings folgt Weaver dieser Prämisse nur selten. Nicht einmal Green steht im Mittelpunkt ihres Narrativs, sondern in erster Linie sie selbst, Fawn Weaver. Wir begleiten die Reisen, die sie unternahm, um mehr über Green zu erfahren. Und jedes Mal, wenn sie einen Mosaikstein in Greens Leben freilegt, sind wir dabei und erleben dies aus Weavers Perspektive.
Diese Erzählstrategie mag für manche unterhaltsam wirken und vielleicht den Mainstream treffen. Wer das Buch liest, um Kenntnis über Green oder gar über soziokulturelle Aspekte im Leben afroamerikanischer Brennereimitarbeiter im 19. Jahrhundert zu erlangen, muss sich mühsam durch eine Unzahl, gern schnulziger Anekdoten aus Weavers Leben wälzen, nur um allzu winzige erkenntnisleitende Snippets zu gewinnen.
Love & Whiskey ist die Story von Weavers Entdeckungsreise und ihren Emotionen. Sie spielt gleichermaßen mit den Emotionen der Leserschaft. Als Weaver in Tennessee ist, begegnen ihr etwa bewaffnete Gestalten in Tarnkleidung und sie verliert keine Zeit, dies als bedrohliches Szenario zu entwickeln. Hier werden die Vorurteile einer reichen, urbanen Elite bedient. Und auch wenn Weaver das Szenario später auflöst – es war gerade Jagdsaison, daher Waffen und Camouflage – die Drohkulisse eines im Grunde nach wie vor rassistischen und mörderischen Hinterlandes bleibt.
Diese Erzähltechnik wendet Weaver mehrfach an. Wie unnötig dies ist, illustriert schon das Beispiel der Jäger. Sowohl die Gewehre als auch die Tarnmuster von Jägern unterscheiden sich auch für Laien deutlich von den vollautomatischen Sturmgewehren und militärischen Mustern, wie sie von Vigilanten bevorzugt werden. Und wie so viele andere Anekdoten führt diese nicht näher zu Nearest Green.
Weaver als Historikerin
„Until now, they’d only seen my historian side.” (286), sagt sie der Leserschaft. Obige Fragen der Erzählstrategie sind Fragen des Geschmacks. Geschichtswissenschaft jedoch ist eben das, eine Wissenschaft. Hier gelten gewisse Regeln und Standards, die Weaver unterläuft. Das betrifft den unzureichenden Anmerkungsapparat, der kaum eine Aussage aus dem Fließtext belegt und mitunter so irrige Zitationen beinhaltet, dass sie das Auffinden des zitierten Werkes massiv erschweren. Das könnte der Verlag bestimmt haben, aber die Arbeitsweise Weavers zeigt ebenso große Mängel auf.
Ein Beispiel dafür ist die für das Buch zentrale Erkenntnis, dass Green der Head Distiller von Jack Daniel war. Hergeleitet wird dies aus Urkunden, die bezeugen, dass Jack Daniel die Brennerei von Dan Call 1877 pachtete und umbenannte. Da Green seinerzeit noch dort arbeitete, müsse er also der Chefdestillateur sein (125f.). Bevor wir die Probleme dieser doch arg übereilten Schlussfolgerung diskutieren, lohnt ein Blick auf diese Urkunden und der Umgang mit ihnen durch Weaver. Sie schreibt:
„A local historian [freilich namenlos] told me when handing over new documents, ‚Make sure to hold to these. Documents with inconveniant truths have a way of going missing or into the Jack Daniel’s archive never to be seen again.‘“ (127)
Die besagten Quellen befinden sich in Form von Mikrofiches in der Staatsbibliothek von Tennessee. Das heißt, die alten Dokumente wurden auf Filmrollen übertragen, meist 35mm. Der Vorteil von Mikrofiche ist die Schonung der Originale, die schnelle Reproduzierbarkeit in verschiedenen Medien und die hohe Resilienz. Zudem ist die Staatsbibliothek Tennessees nicht gerade das Geheimarchiv der NSA. Die Daten sind öffentlich zugänglich, für jeden. Gefunden hat sie, wenig überraschend, die Archivarin des Moore-Countys, Christine Pyrdom.
Die Vorstellung, dass jemand diese Dokumente verschwinden ließe oder Jack Daniel’s sie gar ohne Spur in ihr eigenes Archiv überführen könnte, ist abwegig. So arbeiten Bibliotheken und Bibliothekare nicht, Historiker ebenso wenig. Das widerspricht nicht nur dem Ethos dieser Berufe, es widerspricht administrativer Logik (vielleicht das schlagende Argument hier, leider). Außerdem war es Jack Daniel’s selbst, die Risen 2016 auf Green aufmerksam gemacht haben, um für ihn Aufmerksamkeit zu generieren. Und diese Firma soll ein Jahr später Dokumente aus einer Stabi stehlen…?
Eigentlich ließe sich die Sache damit bewenden. Allerdings stellt sich nach wie vor die Frage, welche Rolle Nearest Green tatsächlich in der Operation der besagten Brennerei ausübte. Eine hervorgehobene Stellung bezeugte bereits Ben Greens Buch: „Nearest Green was his [Jack’s] big helper – becoming the head distiller after Dan Call quit“ (48). Dem wird durch Weaver nichts Neues hinzugefügt. Eine stärkere Unterfütterung durch bislang unbekannte Quellen wäre wünschenswert.
Sie zählt weitere ihrer Quellen auf (220), sie stellt sie uns aber nicht zur Verfügung. Was wir bekommen, ist Diktum. Von Anfang an ist Green der Master Distiller und fertig. Hinweise jenseits von Ben Greens Südstaatenschmonzette werden insinuiert, mehr aber nicht. Statt einer Serie Photos von Greens Nachfahren hätte an dieser Stelle zum Beispiel eine Reproduktion der Quellen geholfen. Die Quellen wurden schon gesichtet und sehr wahrscheinlich digitalisiert. Wenn sie nicht abgedruckt werden können, um Geldbeutel und Bäume zu schonen, bietet sich ein Onlineportal an.
…oder, um auf die „historian side“ zu kommen: sie in einem sauberen Quellenverzeichnis listen. Dies fehlt. Die großen Behauptungen Weavers sind damit nur selten nachzuvollziehen und zu überprüfen. Diese unabhängige Kontrolle von Behauptungen ist es, was Wissenschaft ausmacht.
Kaum neue Erkenntnisse
In der zweiten Hälfte des Buches wendet sich Weaver weitgehend von Green ab und widmet sich immer mehr dem Werdegang ihrer Whiskymarke Uncle Nearest. Erzähltechnik, Dramatisierung, mangelnder Fokus auf Green und unzureichende Dokumentation schmälern den Erkenntnisgewinn ganz erheblich. Aus wissenschaftlicher Perspektive noch bedenklicher ist jedoch, dass manche Thesen als unumstößlich in den Raum gestellt werden, obwohl sie durch ebenjene Untersuchung im Buch hätten erst belegt werden müssen. So setzt Weaver ganz selbstverständlich voraus: „Most distilleries in Tennessee and Kentucky had Black distillers“ (40).
Zu den allermeisten Brennereien Tennessees liegen überhaupt keine wissenschaftlichen Arbeiten vor. Die Verhältnisse in Kentucky sind nur lückenhaft untersucht und das größte Verdienst gebührt Professor Karl Raitz, University of Kentucky. Dessen Making Bourbon von 2020 enthält im Rahmen einer landwirtschaftlichen Analyse auch eine systematische Erfassung der Arbeitsleistung von Sklaven in den Brennereien Kentuckys. Das ist bei Weitem der substantiellste Beitrag zu diesem Thema. Raitz geht dabei intensiv auf die methodischen Schwierigkeiten ein, die uns die bruchstückhafte Schriftquellenlage beschert. Seine Ergebnisse sind entsprechend vorsichtig. Das passt vielleicht nicht in den Zeitgeist und der sehr akademische Zuschnitt des Buches macht es auch nicht mainstreamtauglich. Aber wer eine „historian side“ in sich hat, kann eigentlich nicht darüber hinweg gehen.
Differenzierung braucht es in den Fragen, welche Brennereien Sklaven hatten, welche Rolle sie dort ausübten oder wie repräsentativ die vorliegenden Quellen sind. Weaver hätte hier eine wertvolle Fallstudie anhand Greens liefern können. Bei „tausenden“ bis „zehntausend“ Quellen wäre bereits deren Erfassung beachtlich gewesen. Mehr als beachtlich.
Was ist das Ziel?
Nun ist ein berechtigter Einwand, dass Weaver keine trockene Quellenanalyse vorlegen wollte. Dennoch bleibt offen, warum sie eine solche Qualifikationsarbeit nicht finanziert hat. Genau für diesen Zweck hat sie doch ihre Stiftung Nearest Green Legacy Scholarship gegründet.
Die Erforschung der Beiträge versklavter Menschen zur Entwicklung des amerikanischen Whiskys steht nach wie vor am Anfang. Wie angesprochen sind die methodischen Probleme groß, jedoch nicht unüberwindbar. Die Überlieferung ist fragmentarisch, aber vorhanden: Briefe, Urkunden, Einkaufzettel, Lokalzeitungsartikel usw. warten auf ihre Sichtung. Das ist überaus zeitaufwendig, selten ergiebig und verlangt viel Fachwissen zur Kontextualisierung. Um offen zu sein, es ist eine bisweilen dröge Arbeit. Inwieweit Oral History trägt, also die Aufzeichnung und Auswertung von Sprechakten der Zeitzeugen und ihrer Nachfahren, ist Thema einer Grundsatzdebatte. Auf Nachfahren mit gezielten Fragen einzuwirken, um Informationen über Vorgänge zu erlangen, die über 160 Jahre zurückliegen, ist jedenfalls diskussionswürdig. All diesen Fallstricken müssen sich ernsthafte Historiker stellen.
Ein weiteres Problem könnte das überproportional große Interesse der Medien sein. Nach Risens Artikel 2016 erschienen zahlreiche weitere Beiträge nicht nur in traditionellen Medien, sondern auch in Whiskyblogs, die sich mit Green und Sklaven auseinandersetzen. In solchen Formaten kommen auch Wissenschaftler wie Erin Wiggins Gilliam zu Wort, allerdings ohne ihre sehr weitreichenden Aussagen zu belegen oder gar eine Fachpublikation dazu vorzulegen. Damit ist sie nicht allein. Acht Jahre, von 2016 bis heute, sind mehr als genug Zeit für Historiker, sorgfältig recherchierte Ergebnisse zu präsentieren, sei es in Monographien, Sammelbänden oder Zeitschriften. Doch der Bestand zitierfähiger Literatur bleibt dünn. Da hätte mehr kommen müssen, nicht zuletzt angesichts des großen medialen Interesses.
Weavers Beitrag kann und soll diese Lücke nicht schließen. Zu oft setzt sie dort, wo Zweifel und Umsicht herrschen müssten, Behauptungen als Fakten ein. Und haben sich erst einmal Narrative in der öffentlichen Wahrnehmung in allzu simplen Termini verfestigt, fällt es Historikern sehr schwer, die eigentliche Komplexität des Forschungsgegenstandes publikumswirksam zu vermitteln. Dies sei aber nur am Rande vermerkt. Letztlich hat Weaver keine Green-Biographie vorgelegt, denn um ihn geht es zu selten; Jack Daniel kommt allenfalls peripher vor. Die Suche nach Green und die daraus folgende Entstehung der Marke Uncle Nearest schildert Weaver als persönliche, gefühlsbetonte Entdeckungsreise, und das tatsächlich konsequent. Aus dieser Warte ist Love & Whiskey ein zeitgeschichtlich zu lesendes Buch, das einiges über den heutigen Umgang mit Geschichte (und Geschichtswissenschaft) offenlegt.
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