Whisky und Winston Churchill

Missverstandener Genuss als politisches Instrument

Winston Churchill gegen Adolf Hitler

Bewusster Genuss gegen Abstinenz, Demokratie gegen Nationalsozialismus – zwei Bruchlinien des 20. Jahrhunderts. Hitler verzichtete demonstrativ auf Alkohol, weil er dem Volk als aufopferungsvoller Asket erscheinen wollte. Im Gegenzug wurden die deutschen Journalisten nicht müde, Churchills vermeintlichen Alkoholismus auf- und anzugreifen. Dies fiel auch deswegen auf fruchtbaren Boden, weil Churchill selbst das Trinken als Teil seiner öffentlichen Persona aufgebaut hatte. Dieses Bild ist bis heute derart wirkmächtig, dass ihm beinahe mythische Resistenz gegenüber Alkohol zugeschrieben wird. Artikel über seinen täglichen Alkoholkonsum erzeugen Clicks, vermitteln aber ein wenig akkurates Bild.

Keine Frage, Churchill trank viel Alkohol. Sein oft kolportierter Tagesablauf beinhaltete:

  • 07:00 Uhr: ein Glas Whisky-Soda
  • 11:00 Uhr: ein Glas Whisky-Soda
  • 13:00 Uhr: ein Imperial Pint Champagner (0,57l)
  • 15:30 Uhr: ein Glas Brandy
  • 20:00 Uhr: ein Imperial Pint Champagner (0,57l)
  • 00:00 Uhr: ein Glas Brandy

Die Berechnungen über die Alkoholmenge sind müßig, da nur der Champagner halbwegs gemessen werden kann. Wie viel Whisky sich z.B. in dem Long Drink befand, ist reine Spekulation. Ob ihn dies zum Alkoholiker macht, kann und soll hier nicht Thema sein. Die jüngere historische Forschung verneint dies inzwischen recht vehement. Eines ist sicher, seine Produktivität: über 80 Bücher – darunter die, die ihm den Nobelpreis einbrachten – und 500 Ölgemälde sprechen  eine deutliche Sprache, nicht zu vergessen die simple Tatsache, dass er die europäische Demokratie in ihrer dunkelsten Stunde verteidigte und zum Sieg führte.

Auffällig ist, dass Whisky in Churchills Routine nur eine untergeordnete Rolle spielte, im deutschen Journalismus hingegen prominent erscheint. So wurde der britische Premier ständig als „Whiskysäufer von der Themse“, „Whiskyfass“ (ob seiner Körperfülle) oder „Whiskyselig“ beschimpft. Hitler und sein Propagandaminister Goebbels waren geradezu besessen vom Bild des Alkoholikers Churchills, der sich an Whisky berauschte. Tatsächlich aber hat es aber wenig mit Rausch zu tun, dass Churchill sich dem Whisky zuwandte. Er hielt es zunächst gar für eine reine Modeerscheinung.

Churchill in Der Stürmer, 26. Februar 1942, deutsche Propaganda
Deutsche Journalisten bei der Arbeit: Der Stürmer, 26. Februar 1942

Der junge Churchill und der Whisky im Viktorianischen Zeitalter

Winston Churchill entstammte einem Adelsgeschlecht, das die Geschicke Großbritanniens seit dem 16. Jahrhundert mitbestimmte: das Herzogtum von Marlborough, die Grafschaften von Sunderland und Spencer sowie dem Baronat von Churchill sind mit ihm verbunden. Winstons Vater Randolph (1849 – 1895) gehörte damit zur alteingesessenen Aristokratie und trank standesgemäß eher keinen Whisky. Auch wenn wir uns heutzutage kaum etwas Britischeres als Whisky vorstellen können, begann sein Aufstieg erst im späteren 19. Jahrhundert. Radolph trank Weinbrand wie die meisten seiner Standesgenossen; Whisky haftete noch etwas Provinzielles an. Erst nach der Reblausplage, die die Weinreben Europas verheerte, und dem folgenden Versiegen erst des Weinbrands und dann des Sherrys, tastete sich die Oberschicht an Whisky heran.

Während seiner Jugendzeit in England trank Winston generell keinen Whisky. Erst im Jahre 1897 und erst im fernen Indien geschah es. Der damals 23-Jährige kämpfte gegen Paschtunen und lernte Whisky zu schätzen:

Ich gewöhnte mir eine völlig neue Fähigkeit an. Bis dahin hatte ich nie Whisky trinken können. Mir missfiel der Geschmack über die Maßen. Ich konnte nicht verstehen, warum so viele meiner Kameraden so oft Whisky-Soda bestellten.  […] diesen rauchigen Whisky konnte ich nie leiden.
Nun jedoch war ich fünf Tage einer furchtbaren Hitze ausgesetzt und hatte nichts zu trinken außer Tee oder lauwarmes Wasser oder lauwarmes Wasser mit Limettensaft oder lauwarmes Wasser mit Whisky. Angesichts solcher Alternativen klammerte ich mich an die bessere Hoffnung. Nach den fünf Tagen hatte ich meine Abscheu gegenüber dem Geschmack von Whisky vollständig überwunden. […] Und wer einmal den Trick raus hat, für den entwickelt sich aus dieser Abscheu ein ganz einiger Reiz. 

Churchill: Early Life, 140f. (übers. KG)

Später verkürzte er die Geschichte und kam damit dem Kern näher: „Dort [in Indien] hatte ich die Wahl zwischen dreckigem Wasser und dreckigem Wasser mit etwas Whisky.“ Die antibakteriellen Qualitäten des Whiskys mögen zu seiner Entscheidung beigetragen haben, wahrscheinlicher ist es aber eine geschmackliche Präferenz.

Von da an gehörte der Whisky-Soda zu Churchills Lieblingsgetränken, obgleich er stets nach dem Champagner rangierte. Als es ihn wenige Jahre später nach Südafrika verschlug, den nächsten rebellischen Brennpunkt des Empires, ließ er sich prompt 18 Flaschen zehnjährigen Scotches nachliefern. Da Scotch jener Zeit noch nicht im Fass gelagert werden musste und die systematische Reifung noch in den Kinderschuhen steckte, war so alter Whisky relativ selten und teuer. Die Masse des schottischen Whiskys wies damals eher ein Alter von knapp vier Jahren auf. Churchill hatte einen teuren Geschmack. Er verwies auch darauf, dass Whisky ein aktuelles Modegetränk sei und erst in den 90ern überhaupt in England Fuß zu fassen begann. Dieses Urteil ist zwar teilweise seinem aristokratischen Umfeld zuzuschreiben, illustriert jedoch den vergleichsweise späten Aufstieg des (Scotch) Whiskys.

Johnnie Walker in Churchills Wasser

Wir wissen nicht, wann genau Johnnie Walker zu Churchills Favoriten wurde. Es muss vor den 30ern gewesen sein, denn da war Johnnie Walker längst sein ständiger Begleiter. James Stevenson, Johnnie Walkers Managing Director, hatte Churchill 1917 kennengelernt. Ferner betrachtete er Alexander Walker als seinen Freund sowie primäre Quelle seines Whiskys („[er] sorgt für meinen Nachschub“). Da ihn offenbar auch die Produkte der Walkers überzeugten, standen Red und Black in seinem Schrank. Churchill schien den Black zu bevorzugen, jedenfalls ist es der Whisky seiner Wahl auf dem berühmten Stillleben „Jug with Bottles“, das er 1930 gemalt hat.

Winston Churchill: Jug with Bottles,Gemälde des Johnnie Walker Black 1930

Allerdings trank Churchill den Whisky grundsätzlich in einem Long Drink und nicht pur, auch wenn das bei der ein oder anderen Gelegenheit passiert sein mag. Es ist zweifelsfrei belegt, dass dieser Long Drink nur einen verschwindend geringen Anteil an Whisky hatte:

Winstons Whisky war eher ein Whisky-Soda […] in Wirklichkeit ein Mundwasser. Er wurde sehr unangenehm, wenn der Drink zu stark war.

John Collville, Privatsekretär

Das Glas schwachen Whiskys […] war mehr ein Symbol als alles andere, und dieses eine Glas genügte ihm für Stunden.

John Peck, Privatsekretär

Er trank sicher den schwächsten Whisky-Soda, den ich je gesehen habe.

David Hunt, Privatsekretär

Ein Spritzer Johnnie Walker, gerade genug, um den Boden des Tumblers zu bedecken.

Mary Soames, Churchills Tochter

Nicht wenige waren erstaunt, als sie Churchill trafen und feststellten, dass er keineswegs die Mengen Alkohol verschlang, die ihm nachgesagt wurden. Und was er trank, maß er mathematisch genau ab. So hatte ihn kaum jemand je betrunken gesehen. Leuten, die Whisky pur tranken soll er regelmäßig gesagt haben, dass sie damit nicht lange leben würden. Als ein anderer Privatsekretär, George Harvie-Watt, Churchill aus Versehen einen Whisky pur eingoss, merkte dieser auf: „Willst Du mich vergiften?“. Weiter entfernt von der Karikatur deutscher Journalisten hätte Churchill also kaum sein können.

Russische Nächte

Wo der eine Diktator Churchills Alkoholkonsum verteufelte, sah ein ganz anderer Diktator darin vielleicht eine Herausforderung: Josef Stalin, Tyrann der Sowjetunion. Churchill als aufrechter Demokrat hasste Sozialismus, Kommunismus und die Sowjetunion, und er war 1919 sogar an den Bemühungen beteiligt, sie zu zerschlagen. Doch „wäre Hitler in die Hölle eingefallen, würde ich wenigstens ein paar nette Bemerkungen über den Teufel im Unterhaus machen“, sagte er. Gezwungen mit Stalin zusammenzuarbeiten bis Hitler besiegt war, trafen sich die beiden mehrfach.

Bei Stalin gehörte das Trinken von hartem Alkohol zum politischen Programm; Chruschtschow jammerte später, Stalin habe das Politbüro zum Saufen gezwungen. Auch Stalin wusste um die vermeintliche Trinkfestigkeit Churchills. Am 14. oder 15. August 1942 soll es zu einem Wetttrinken in Moskau gekommen sein. Alexander Golowanow, Hauptmarschall der Flieger, berichtet:

Churchill nahm eine Flasche armenischen Cognacs, schaute sich das Label an und goss Stalin ein Glas ein. Toast folgte auf Toast und ich machte mir Sorgen um Stalin. Churchill hatte den Ruf, ein stabiler Trinker zu sein und schien ihn herauszufordern, wer wohl mehr trinken kann. Stalin konnte mithalten und als man Churchill wegtrug, um etwas auszuruhen, kam er zu mir und sagte: ‚Warum schauen Sie mich so an? Keine Sorge, ich werde die Ehre Russlands schon nicht beim Trinken verlieren. Aber er wird sich morgen wie ein Fisch in der Pfanne fühlen.‘

Golowanow (zit. nach Ermochkine/Iglikowski, 64; übers. KG)

In der sozialistischen Geschichtsschreibung stand es damit 1:0 für Stalin. Da sich der sowjetische Diktator gern mit seiner Männlichkeit brüstete, gehörte es wahrscheinlich zum guten Ton, den standhaftesten Vertreter des Westens unter den Tisch zu trinken. Der britische Botschafter Archibald Kerr berichtet indes, dass es wohl viele Toasts gab, aber dass Churchill danach so schnell durch die Korridore des Kremlins eilte, dass Stalin nicht hinterher kam – allzu betrunken kann er demnach nicht gewesen sein. Laut einem anderen Augenzeugen, Alexander Cadogan, trank Churchill nur Wein an diesem Abend. Churchill selbst verneinte diese und andere Trinkgeschichten mit Stalin kategorisch. Auch Stalin dürfte alles andere als betrunken gewesen sein, denn bei anderen Konferenzen mit Churchill sah man ihn Wodka durch Wasser ersetzen, sobald er sich unbeobachtet fühlte. Vermutlich werden beide Staatsmänner sich ihre Nüchternheit bewahrt haben, schließ saß ihnen gegenüber ein aktueller Verbündeter in der Not, doch ein zukünftiger Gegner nach dem Sieg.

Gleichfalls dürfte der Tausch von schottischem Whisky und armenischem Weinbrand ins Reich der Legenden gehören. Auf Jalta soll Churchill 1945 den armenischen Weinbrand für sich entdeckt haben – den er, wie die obige Anekdote zeigt, eigentlich hätte kennen müssen – und gleich mehrere Hundert Kisten bestellt haben. Im Gegenzug brachte er angeblich Stalin auf den Geschmack von Whisky. Nichts davon lässt sich erhärten. Allerdings ist armenischer Brandy tatsächlich ein vorzügliches Getränk mit langer Tradition, das Churchill als Brandy-Fan sicher gemundet hat. Bei Stalin wiederum ist bekannt, dass nur er zu einer Gelegenheit dem Whisky den Vorzug gab, und zwar an Churchills Geburtstag, dem 30. November 1943 in Teheran. Er hielt Wodka gemeinhin für besser.

Whisky im Gepäck

Als der amerikanische Präsident Theodor Roosevelt in Teheran nach Whisky fragte, war in der amerikanischen Niederlassung keiner zu finden. Glücklicherweise war im britischen Gepäck genug und nicht weniger als acht Kisten Whisky schafften den Weg zu Roosevelt. Das war vermutlich Churchill zu verdanken, der seit dem 19. Jahrhundert nicht mehr ohne große Mengen Whisky reiste. Zu dieser Zeit aber litt Churchill an Depressionen. In diesem Zusammenhang ist eine der wenigen bestätigten Episoden zu sehen, in denen er betrunken war.  Sie ereignete sich auf dem Heimflug. Anthony Eden erinnerte sich: „Winston hatte seine Stimme verloren, ich denke, weil er letzte Nacht zu viel sprechen musste, und er tat sich selber Leid bis er gegen 08:25 Uhr einen starken Whisky-Soda hatte.“

Später, bei der Jalta-Konferenz 1945, legte Churchill besonderen Wert auf die Mitnahme von Whisky. Das erst im letzten Jahr von der Wehrmacht zurückeroberte Jalta auf der Krim litt noch unter den Verwüstungen des Krieges. Diese „Riviera des Hades“, wie er den Ort nannte, gedachte Churchill mit Whisky zu überstehen: „gut gegen Typhus und tödlich gegen Läuse“. Winston Churchill als Kind des 19. Jahrhunderts war noch mit den positiven Effekten vertraut, die die alte Medizin dem Whisky zugeschrieben hatte. Dies war wohl auch ein Grund, warum er Wasser mit Whisky versetzte und sich 1930 für eine Reise in die USA medizinischen Alkoholkonsum in Form von Whisky verschreiben ließ, als dort die Prohibition herrschte. Ob Whisky aber wirklich ein so starkes Desinfektionsmittel darstellte wie Churchill glaubte, ist dennoch fraglich.

Im Anschluss an die Konferenz traf sich Churchill mit Abdul Aziz, dem König Saudi-Arabiens (außerdem Freund und Wegbereiter der Bin Laden-Familie). Wieder einmal standen sich Demokratie und Despotismus gegenüber, Alkohol und Abstinenz. Als Abdul Aziz verlangte, dass Churchill in seiner Gegenwart an ultra-konservative islamische Gesetze beachtete, gab sich dieser trotzig:

Wenn es denn die Religion seiner Majestät war, sich das Rauchen und Trinken vorzuenthalten, so musste ich erwidern, dass die Regeln, nach denen ich lebe, den heiligen Ritus des Genusses von Zigarren und Alkohol vorschreiben – vor, nach und, wenn es sein muss, während der Mahlzeiten sowie in allen Intervallen dazwischen.

Churchill, 17. Februar 1945 (zit. nach Gilbert, 825)

Whisky-Soda wurde serviert, wenn auch in undurchsichtigen Gläsern, wie der britische Botschafter vermerkte.

Nach dem Sieg über Hitler trafen sich die Großen Drei – der britische Premier, der sowjetische Diktator und der amerikanische Präsident – in Potsdam. Wie üblich trank Churchill Whisky und geißelte sogleich die „barbarische“ Sitte der Amerikaner, Eis in das Glas zu geben. Diesmal war es aber angeblich kein Johnnie Walker, sondern ein 12-jähriger King Ransom. General Eisenhowers Stab soll in letzter Minute den Auftrag erhalten haben, für das Catering zu sorgen und King Ransom war der einzig auffindbare Whisky. Ob dies wirklich so war, ist schwer zu ermitteln. Da Churchill eigentlich nie ohne Whisky reiste, erscheint die Geschichte nicht sehr glaubwürdig. Die Werbung in den 70ern wirkte nichtsdestotrotz und zeitweise war der King Ransom der teuerste Whisky der Welt.

Churchill ohne Whisky? King Ransom Werbung aus dem Esquire Magazine vom Mai 1974
King Ransom Werbung, Esquire Magazine, Mai 1974

Scotch in der Krise. Champion Churchill

Mehr noch als der Erste Weltkrieg brachte der Zweite das Empire an den Rand des Zusammenbruchs. Deutsche U-Boote versenkten immer mehr Schiffe, die lebenswichtige Güter nach Großbritannien fuhren; die deutsche Luftwaffe bombardierte bis Sommer 1941 unerbittlich die Insel – und ihre Whiskybrennereien, wenn auch nicht absichtlich. Der schottische Whisky geriet in eine Existenzkrise. Das hochwertige Getreide für Grain Whisky dürfte gar nicht mehr gebrannt werden und für Gerstenmalz wurde ein Oberlimit eingerichtet. Dieses fiel nicht zuletzt angesichts der jahrzehntelangen Krise im Anbau von Gerste besonders streng aus. Von 1942 bis 1944 dürfte überhaupt kein Malz an Brennereien geliefert werden, sodass Anfang 1944 allesamt den Betrieb einstellten. Daher musste während des Krieges von den Reserven gezehrt werden. 1944 sah sich Johnnie Walker gezwungen, die Altersangabe von seinen Flaschen zu entfernen, weil nicht genug ausreichend alter Whisky zur Verfügung stand. Das mag für Churchill, Fan des Johnnie Walker, ein Warnsignal gewesen sein.

Mit dem Sieg in der Atlantik-Schlacht, dem Ende der Bomberflotten der Luftwaffe und der geglückten Landung in der Normandie drängten die schottischen Brenner auf den Neustart. Mitte 1944 war wieder der 1939er Verbrauch an Gerstenmalz gestattet, 100.000 Tonnen; doch selbst dies war nur ein Drittel des Vorkriegsniveaus. Die Nutzung von Getreide war ein Politikum und blieb es. Großbritannien mag nicht die Trümmerwüste geworden sein, die Churchill in Deutschland bald mitleidig betrachtete, doch der wirtschaftliche Schaden und der Schuldenberg waren immens hoch. Da wollten einige Politiker Getreide ausschließlich für die Gewinnung von Grundnahrungsmitteln nutzen. Churchill hielt dagegen:

Reduzieren wir auf keinen Fall die Zuteilung von Gerste für Whisky. Der braucht Jahre, um zu reifen, ist ein unschätzbares Exportgut und bringt uns Dollars. Mit Rücksicht auf all die Schwierigkeiten, denen sich der Exportmarkt ausgesetzt sieht, wäre es höchst unbedacht, dieses charakteristische Moment britischer Vormachtstellung nicht bewahren zu wollen.

Churchill an den Landwirtschaftsminister, 3. April 1945

Churchill hatte seine Zahlen im Griff. Dieser kurze Ausflug in die Wirtschaftsgeschichte des Scotch sei gestattet: Von den 1939 operierenden 92 Distillerien waren zwölf ganz verloren und 23 hatten die Produktion noch nicht wieder angefahren. Von einst 29,2 Millionen Gallonen war der Ausstoß 1944 auf Null gesunken und selbst 1945 wurden nur 8,7 erreicht. Von 144 Millionen Gallonen in Lagerhäusern 1939 waren bei Kriegsende weniger als 85 Millionen verblieben. Das Durchschnittsalter sank von fast acht Jahren auf sechs Jahre. Erzielte der Export von Whisky 1939 noch 12,7 Millionen Pfund, waren es 1945 nur 8,6 Millionen.

In dieser Situation die Produktionsketten des Whiskys erneut zu unterbrechen – zumal ohne, dass deutsche Luftwaffe oder Kriegsmarine drohten – hätte der Industrie irreparable Schäden zufügen können. Außerdem musste Churchill zwei Konkurrenten im Auge behalten, die Republik Irland und die Vereinigten Staaten. Beider Whisksyindustrien waren in ähnlich katastrophalem Zustand, gleich wenn ob anderer Gründe. Allerdings hatten gerade die Amerikaner eine erstaunliche Wachstumskraft bewiesen und gewannen an politischem Einfluss. Die amerikanischen Whiskybrenner drängten genauso wie die schottischen in die Märkte. Es galt die in den 20ern eroberte Spitzenstellung im Exportmarkt zu halten. So war es eben nicht das Zerrbild Churchills als Säufer, das seine Entscheidung trug, wie zunächst zynisch naheläge. Es war die kühle Berechnung eines erfahrenen Politikers, der kaum den Boden seines Tumblers mit Whisky benetzte.

Whiskygenuss als Persona und Spiegel. Ein Fazit

Winston Churchill wirkte schon zu Lebzeiten wie ein Relikt der Vergangenheit. Whisky war für nicht das traditionelle Getränk der Insel, sondern eine neue Erscheinung, die er fast tröpfchenweise genoss. Doch er erkannte, wie wichtig Whisky im 20. Jahrhundert wurde. So wie er seine wirtschaftliche Bedeutung verstanden hat, hat er zweifelsohne seinen kulturellen Stellenwert im In- und Ausland begriffen. Das Image des Whiskytrinkers half außerdem, den Aristokraten Churchill mit der Wählerschaft zu verbinden. Eventuell spielten auch gewisse Männlichkeitsvorstellungen eine Rolle, die er zu bedienen suchte.

Genau dieses Image beflügelte Phantasien von Trinkwettbewerben mit Stalin und es bildete die Basis für die nationalsozialistische Propaganda. Churchill maß beidem keine große Bedeutung bei. Gelage während russischer Nächte wies er kühl mit Verweis auf seine gute Erziehung zurück, den geifernden Hitler strafte er zumeist mit Nichtachtung. Vielmehr verraten die Versuche seiner ideologischen Antipoden etwas über ihren eigenen Umgang mit Alkohol.

Ihnen allen hielt Churchill einen Spiegel vor. Nirgends wird dies deutlicher als im Treffen mit Abdul Aziz, dem religiösen Fanatiker: wo er in Stalins alkoholschwangerer Nähe Mäßigung übte, erklärte er in der Nähe des Saudis den Alkoholgenuss direkt zu seiner Religion. Es dürfte ein reichlich skurrilen Bild gewesen sein, als er seinen Whisky-Soda neben das Mekka-Quellwasser stellte. Eine Provokation war sein Verhalten allemal, gleichsam jedoch ein mutiges Einstehen für die eigenen Ideale. Denn hier ging es nicht um Alkohol; der war nur ein pars pro toto.

Vermutlich lässt sich die Demokratie auch ohne Whisky verteidigen. Jedenfalls dürften wir als Kinder des späten 20. Jahrhunderts und frühen 21. Jahrhunderts dankbar sein, dass sie einen Kämpfer wie Churchill in ihren Reihen wusste. Und weil er diesen Kampf mit einem Glas Whisky in der Hand führte, ist es wohl das Mindeste, dass wir ihm ebenso danken – mit dem Glas Whisky in der Hand.

Ausgewählte Literatur

Churchill, Winston: My Early Life. A Roving Commission, London 1930.

Ders.: The Second World War VI. Triumph and Tragedy, London 1953.

Ermochkine, Nicholas/ Iglikowski, Peter: 40 Degrees East. An Anatomy of Vodka, New York 2003.

Gilbert, Martin: Churchill. A Life, London 1991. (offizieller Biograph)

Langworth, Richard M.: Winston Churchill. Myth and Reality, Jefferson 2017.

McMoran Wilson, Charles: Churchill. The Struggle for Survival 1940-1965, London 1965

Morgan, Nicholas: A Long Stride. The Story of the World’s No. 1 Scotch Whisky, Edinburgh 2020.

Sander, Gin/Langer, Roxanne: Churchill. A Drinking Life, New York 2022.

Stelzer, Cita: Dinner with Churchill. Policy-Making at the Dinner Table, London 2011.

Vale, Allister/ Scadding, John: Winston Churchill’s Illnesses, 1886–1965. Courage, Resilience and Determination, Yorkshire 2020.

No Comments

Leave a Comment